Michael Disqué und Unbekannt, Roman Ehrlich
„Im Verhältnis zum Müll“ von Roman Ehrlich
Im vergangenen Jahr lebte ich, probeweise sozusagen, in einer der saubersten und ordentlichsten Städte, die ich in meinem Leben je betreten habe. Die Ordnung und Sauberkeit in dieser Stadt waren so umfassend, dass sie mir immer wieder neu auffielen. Sie wurden nie zu etwas Selbstverständlichem für mich, das durch seine Selbstverständlichkeit aus der alltäglichen Wahrnehmung verschwunden wäre.
Ich suchte mir eine Route zum Joggen in dieser Stadt und fand sie entlang eines Bachlaufs, der aus der Stadt hinaus in die angrenzenden Siedlungen führte. Auf dieser Route, die ich an mindestens zwei Tagen in der Woche abjoggte, befand sich das Gebäude einer städtischen Primarschule, dessen Rückseite den Weg, der den Bachlauf entlangführte, auf einer Seite begrenzte. Auf dieser rückseitigen Wand war ein noch relativ frisches Graffiti aufgesprüht, das ganz offensichtlich kein normales Graffiti war (von einem Sprüher oder einer Sprüherin heimlich illegal dort auf die Primarschulenrückseite aufgebracht), sondern eine von der Schule bzw. der Stadt in Auftrag gegebene, gewollte und bezahlte Auftragsarbeit. Das Graffiti zeigte verschiedene Figuren, die aus Alltagsmüll mit menschlichen Gliedmaßen und Gesichtern bestanden und in Posen, die einer primarschulenhaften Vorstellung von Hip Hop entlehnt schienen, um den Schriftzug ABFALL IN DEN MÜLL, ORDNUNG IN DER WELT herum angeordnet waren.
Während meines Jahres in der Sauberen Stadt joggte ich also an mindestens zwei Tagen der Woche an der Graffitibotschaft der städtischen Primarschule vorbei und habe entsprechend viel Zeit darauf verwendet, mit diesen sehr speziellen, konzentriert-flüchtigen Jogginggedanken darüber nachzudenken, in welchem Verhältnis eigentlich die Begriffe Abfall, Müll, Ordnung und Welt zueinander stehen und was die Botschaft der städtischen Primarschule noch alles an gewollten und ungewollten Neben- und Zweitbotschaften mittransportierte – über die Welt, die Saubere Stadt und die Menschen, die sie bewohnten.
Nachdem das Jahr meines probeweisen Lebens in der Sauberen Stadt vorüber war, kehrte ich nach Berlin zurück, noch immer mit einer geschärften Wahrnehmung für Ordnung und Sauberkeit, für den Müll und den Dreck in den Straßen, den Abfall, seine Sichtbarkeit und das Verhältnis der Menschen zum Gesellschaftsvertrag, der im Graffiti auf der Primarschulenrückwand implizit formuliert war („Die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Welt ist die kollektive Anstrengung einer Gesellschaft. Jeder Mensch, der ein Teil der Gesellschaft ist, trägt Verantwortung für diese Ordnung“).
Der Abfall auf den Straßen Berlins, die sich von den Straßen der Sauberen Stadt deutlich unterscheiden (auch wenn Berlin sicher nicht das Gegenteil der Sauberen Stadt ist), musste also, dachte ich, etwas aussagen über den Zustand der Gesellschaft in dieser Stadt und das Verhältnis des Einzelnen zum gemeinschaftlichen Projekt – der Ordnung in der Welt. Vielleicht würde er selbst auch schon Antworten auf die Fragen enthalten, die seine allgegenwärtige Präsenz aufwirft:
Empfinden diejenigen, die den Abfall auf der Straße hinterlassen, keine Verantwortung für den gemeinsamen Lebensraum? Kommt dieses fehlende Verantwortungsgefühl daher, dass sich die Leute der Gesellschaft, in der sie leben und mit der sie diesen Raum teilen, nicht zugehörig fühlen? Existiert diese Gesellschaft überhaupt? Existiert das implizite Gebot der Sauberkeit als Verantwortung für den gemeinsamen Raum oder nur als individueller Wunsch, das Obsolete möge verschwinden, möglichst unsichtbar und für immer? Ist die Verantwortung für den Abfall auf der Straße die Verantwortung der Stadtreinigung, die von allen Teilen der Gesellschaft durch erhobene Steuern und Gebühren finanziert wird? Und ist die Haltung, die jemand einnimmt zum Müll, Politik in ihrer reinsten Form?
Es ist ein alter Allgemeinplatz, dass sich aus dem Abfall einer Zivilisation ihre Lebensumstände herauslesen lassen. Die Archäologie der menschlichen Kulturen ist immer auch eine Archäologie ihres Mülls, dem eine unschätzbare Evidenzhaftigkeit beigemessen wird, als objektiviertes Geschichtsbuch, frei von hoheitlichen Deutungsinstanzen der Herrschenden, der Sieger und Propagandisten.
Das Plastikzeitalter, es folgt ein weiterer Allgemeinplatz, hat Artefakte hervorgebracht, die sehr wahrscheinlich sogar die Spezies, der sie einmal gedient haben, auf der Erde überdauern werden. Die Sedimente des Anthropozäns sind Chipstüten, Plastikbecher und Computertastaturen, die selbst dann, wenn längst keiner mehr da sein wird, um danach zu fragen, Auskunft geben können über unsere Arten zu leben, über unseren Konsum und den Wandel der Warenwerte.
Im Angesicht des Mülls auf der Straße wird aber deutlich, dass er nicht nur Archäologinnen und Archäologen zur Rekonstruktion vergangener Kulturen dienen kann, sondern eben auch als gesprächiges Phänomen der Gegenwart gelesen und befragt werden: Der Abfall, der vor ein paar Tagen oder ein paar Minuten vor die Tür getragen und an den nächsten Alleebaum hingelehnt, im Gehen fallengelassen oder aus dem Autofenster geworfen wurde, ist sozusagen noch warm von der Verwandlung, die er gerade erst durchlaufen hat. Vom Besitz mit entsprechendem Warenwert zum Überflüssigen, zum Müll, der allein durch diese Entscheidung sehr plötzlich den Status des Unsauberen, Dreckigen und Schmutzigen erhält – und so verwandelt zum Akteur der Politik und der Moral wird, da sein Verschwinden out of sight mit der Aufrechterhaltung der Ordnung assoziiert wird.
Noch sehr frisch, obwohl schon sehr alt, ist in mir noch die Erinnerung an die Lohnarbeit in einer Reinigungsfirma, für die ich täglich früh am Morgen in den Kinosälen eines Berliner Multiplexkinos den Abfall des Vorabends auflas, die Reihen und Polster absaugte, Kaugummis von den Sitzunterseiten ablöste und dabei alles in den frischen Zustand der Sauberkeit und der Bereitschaft für die Verwüstungen des kommenden Kinoabends versetzen sollte.
Besonders auffällig waren mir damals die krasse Menge an Müll, die ein Publikum während eines Kinoabends in einem Kinosaal hinterlassen konnte, und die Art und Weise, wie der Müll entweder zwischen die Klappsitze und Armlehnen gestopft, hinten unter die Sitze geschoben oder sonst wie schwer erreichbar platziert wurde. Bewusst oder nicht, glaubte ich beim gebückten und verrenkten Auflesen dieses Mülls, mussten die Kinozuschauerinnen und Kinozuschauer nach einer gewissen inneren Aversion dem Kinogroßbetreiber gegenüber gehandelt haben und sich gedacht: wenn wir hier schon so viel Geld hinlegen für eine Kinokarte und für überteuertes Popcorn, dann lassen wir denen wenigstens unseren Müll da – als ein mehr oder weniger dezent formuliertes fuck you. Den Dreck, den ihr uns verkauft, schieben wir euch gleich wieder hinten rein. Dass dieses fuck you in seiner Reichweite auf die Angestellten der Reinigungsfirma beschränkt blieb, ist wohl ein Indiz für seinen vorbewussten Charakter. Und trotzdem glaube ich, dass es den Kinobesuchern nicht völlig unklar gewesen ist, dass durch ihren Umgang mit dem Abfall des Abends auch noch ein Kommentar hinterlassen werden konnte.
Vom Heulen der Staubsauger in den Sitzreihen eingelullt, habe ich während der frühmorgendlichen Reinigung der Kinosäle oft den Faden verloren beim Versuch, diesen Kommentar zu entschlüsseln. Also über wen genau dieser Kommentar eine Aussage traf, über welches Verhältnis, und an welchem Ende hier die Macht zu suchen war, die entweder infrage gestellt oder verstetigt wurde.
Die Nähe von Müll und Moral besteht in ihrer Eigenschaft als Entscheidungsfragen:
Soll ich dich behalten? / Wie soll ich mich verhalten?
Das Verhältnis der Menschen zu den Waren des täglichen Bedarfs – und den Gütern des diesen Bedarf übersteigenden Luxus – ist im Begriff des Verbrauchers bereits treffend erfasst. In ihm wird deutlich, dass die Interaktion sich nicht in Erwerb und Besitz der Güter erschöpft, sondern auch noch die Verwandlung der Waren in Müll als bewussten Entscheidungsprozess einschließt. (Die erstaunlich müllferne Sphäre der digitalen Welt, in der jede Schwachsinnsinformation gespeichert und ausgewertet wird, spricht bezeichnenderweise nicht vom Verbraucher, sondern vom Nutzer.) Zumindest in den wohlhabenden, konsumorientierten Gesellschaften der Welt, die im modernen Kapitalismus organisiert sind, hat diese Verbrauchsdynamik eine imperativische Form angenommen. Dem ständigen Wachstum und Neuerwerb muss eine Art Obsoletismus ständig zur Seite stehen – die Verbraucherinnen und Verbraucher übernehmen in Eigenverantwortung die Maximierung ihrer Konsumkapazitäten. Die vermeintlich autonome Erschließung ihrer Bedürfnisse (der Wunsch, etwas zu besitzen), erfolgt nicht zuletzt durch die Erfahrung, dass man selbst Herrin und Herr ist über den Status der Dinge. Die Potenz, einen Gegenstand als Müll deklarieren zu können, ist die Rückversicherung der Teilhabe am Wohlstand.
In diesem Zusammenhang ist es auch wenig überraschend, dass das sogenannte Messie Syndrom, wenn es auftritt in einem Teil dieser Gesellschaft, pathologisch als Wertbeimessungsstörung klassifiziert wird. Die Person mit Messie Syndrom ist nicht mehr in der Lage, den Dingen in ihrem Haushalt den ihnen entsprechenden Wert beizumessen. Wobei es sich bei dieser Störung fast immer um die Unfähigkeit handelt, den Dingen ihren Unwert beizumessen – sie also als das zu erkennen, was sie dem gesellschaftlichen Konsens nach sind: Müll. Die vermeintlich autonome Entscheidung darüber, wann ein Gegenstand die Verwandlung vom Konsumgut zum Abfall durchläuft, wird also keineswegs individuell getroffen, sondern unterliegt einem common sense, einer allgemeinen Vorstellung von Wertigkeit und Lebensdauer der Waren. Der Begriff der Wertbeimessungsstörung, als dem Messie Syndrom zugrundeliegende Dysfunktion, korrespondiert mit dem Konsens, der in der Graffitibotschaft auf der Primaschulenrückwand in der Sauberen Stadt formuliert ist, als dessen Gegenstück. Die Störung kann schließlich nur von diesem gesellschaftlichen Konsens her attestiert werden. Die Gestörten, die nicht mitmachen können oder wollen beim gemeinsamen Projekt Ordnung in der Welt, erscheinen dadurch als krankhaft asozial.
Nach der Entscheidung über den Status eines Gegenstands, seiner Verwandlung in Müll, bekommt sein umgehendes und restloses Verschwinden unmittelbar Priorität und Dringlichkeit. Schließlich handelt es sich bei der Ordnung, die durch diese Entscheidung hergestellt wird, um ein geordnetes Vergessen: sie duldet keine Gleichzeitigkeit des Neuen und des Obsoleten. (Der krasse Druck, diese Entscheidung auch als dringliche Frage der Moral zu empfinden, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in den Produkten, die schon beim Kauf ihren künftigen Müllstatus ausstrahlen. Die also klar machen, dass ihr Verhältnis zum Verbraucher nicht von Dauer sein kann und auch nicht sein soll und die somit ihre sofortige Verwandlung und Entsorgung fast schon imperativisch einfordern.)
Das Urteil, das über die Gegenstände gefällt wird, erfüllt hier wie überall seine zentrale Funktion im Fortschritt, im Weitergehen, dem Fokus auf das Nächste – würde es nicht existieren, müsste man sich ständig mit allem befassen, für immer. Die extreme Zerstreuung, die oft als eigentlicher Leidensdruck die Wertbeimessungsgestörten begleitet, kommt von dieser permanenten Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von allem.
Die Geschichte der Millionen täglichen Urteilssprüche und der Verwandlungen, die sie begleiten, ist im Müll auf der Straße noch so lange sichtbar, bis er aufgesammelt, weggekehrt oder abgeholt wird. So lange kann man sich auch noch vorstellen, dass einer aus seinem Haus heraustritt, den selbst dort an einen Alleebaum hingelehnten Müll erblickt und sich denkt: „Du bist ja immer noch da.“
Wahrscheinlich wären die Müllwerkerinnen und Müllwerker, die täglich die Abfuhr des Abfalls übernehmen, in der gegenwärtigen Zeit (gemeinsam mit den Angestellten der Logistikbranche, die das Material zum Verbrauch überhaupt erst anliefern) zum effektivsten Arbeitskampf fähig, da ihre Arbeit im Abwenden eines kollektiven Albtraumszenarios besteht: dem nicht-mehr-Verschwinden des Obsoleten, dem Dableiben und über die Köpfe hinauswachsen des fauligen, stinkenden Abfalls, den das Leben stündlich vor und hinter sich aufhäuft. Neben Bürgerkrieg und Hungersnot gehört die Abwesenheit einer funktionierenden Müllabfuhr zu den deutlichsten Indizien für soziale Verwahrlosung, das Scheitern von Staaten und den Zusammenbruch gesellschaftlicher Strukturen. Die Rückversicherung, am Wohlstand teilzuhaben, beschränkt sich nicht nur auf die Fähigkeit zu entscheiden, wann aus dem Erworbenen Abfall wird. Sie bedarf auch der Gewissheit, dass dieser Abfall von den weitestgehend fremden Mächten der Müllabfuhr aus dem eigenen Wahrnehmungsbereich umgehend entfernt werden wird.
Die Wiederbegegnung mit dem eigenen Abfall, die Hartnäckigkeit des Immernochdaseins, mit dem derjenige konfrontiert wird, der das Haus verlässt und seinen eigenen Abfall am Alleebaum lehnen sieht, wäre der dem Obsoletismus als Sorge und Schrecksekunde eingebaute Antagonismus. Der Müll gewordene Gegenstand, der nach dem über ihn gefällten Urteil nicht verschwindet, trotzig und sichtbar da bleibt, ist das Gegenbild des vorwärts voranschreitenden Neuen – dysfunktional wie die Kunst und wie sie aus einem Überschuss stammend, der gleichzeitig auch ein Mangel ist und die Herstellung der Ordnung durch Vergessen unterwandert (die gern in Ausstellungen gestellte rhetorische Deppenfrage „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ weist auf die Verwandtschaft der Phänomene hin).
Schließlich könnte die Diagnose der Wertbeimessungsstörung auch den Künstlern, vor allen vielleicht den Schreibenden, gestellt werden, die alles Aussortierte, Überholte, Verdrängte und an den Rand Geräumte immer wieder hervorholen und betrachten müssen, zur Unzeit, als Teil der Observation der Gesellschaft und des Zustands der Menschen in dieser Gesellschaft. Die Betrachtung des Mülls auf der Straße ist insofern immer auch Poetik: Stehenbleiben, Hinschauen, Kontemplation und eben Wertbeimessung auch im Widerspruch zur geltenden Norm, zum Imperativ der Graffitibotschaft in der Sauberen Stadt.