05.11.2022 Thomas Lüttge

  

EIN DIALOG ZWISCHEN THOMAS LÜTTGE UND MICHAEL DISQUÉ:

MICHAEL DISQUÈ
Bei der Ausstellungsvorbereitung sind sie ihr Bildarchiv der vergangenen Jahre durchgegangen und haben festgestellt, dass sie heute, aus einem zeitlichen Abstand betrachtet, plötzlich Fotografien am Interessantesten finden, die damals nebenher, fast schon unbewusst, entstanden sind. Dieses zufällig Nebensächliche, scheinbar Belanglose, das Nichts? hat mich an meinem „Archiv für aktuelles Nichts“ interessiert, was wiederum der Ausgangspunkt für den „Kleinen Raum für aktuelles Nichts“ darstellt, wo ihre Fotografien zu sehen sind. Bevor wir vielleicht auf die Frage nach dem Nichts näher eingehen, würde ich gerne wissen, wie sie ihr Suchen, ihr Fragen beschreiben würden und ob bzw. wie es sich im Laufe der Zeit verändert hat.

THOMAS LÜTTGE
Als Kind lebte ich auf dem Land und als Jugendlicher dann plötzlich mitten in einer Großstadt, in Hamburg, in der Zeit 10 bis 15 Jahre nach dem Kriegsende. Ich war es gewöhnt viel herum zu laufen und alles genau anzuschauen und damit heraus zu finden wie und was die Dinge sind, die vor mir auftauchten. Manches war vertraut, anderes fremd, unverständlich, auch
manchmal etwas unheimlich, weil ich es nicht verstand, nicht kannte. Auf meinen Erkundungen durch das teils stark zerstörte Hamburg wuchs mein Interesse am reinen Bildausdruck, der sich erst nach und nach genauer erkennen und besser verstehen ließ. So fing ich an Dinge in ihrem Zusammenhang zu fotografieren, um Zeit für besseres Verstehen zu gewinnen.
Wichtig waren für mich auch die ersten großen Kunstausstellungen der Maler, Bildhauer und Architekten des 20. Jahrhunderts, die in der Nazizeit nicht gezeigt werden durften.

In dieser Zeit wurde klar, dass es nicht darum gehen konnte etwas Bestimmtes zu suchen. Im Gegenteil: die besonderen Konstellationen und außergewöhnlichen Momente passierten immer dann, wenn ich ohne Absicht war und mit den Gedanken weit weg. Es kam mir bei starken Erlebnissen eher so vor, als hätte eine Konstellation hier und jetzt erst eine Chance sich mir mitzuteilen, wenn ich total offen und durch nichts mehr gebunden war. Daran hat sich mein Leben lang nichts mehr geändert.

Heute verstehe ich: Die Aktivitäten des „Ich“ stehen bei solchen Ereignissen nur im Weg und verhindern den Einfall des Unvorhersehbaren. Dazu gehören Hoffen, Erwarten, Suchen, Feststellen, sich etwas vorstellen oder Fragen formulieren. Und jede Form von Ichbezogenheit, wie spekulative, heimliche Absicht oder Eitelkeit verhindern tiefe und wahrhaftige Momente. Allerdings ist eine intensive Wachsamkeit mit allen Sinnen beim Fotografieren unverzichtbar. Wachsam sein bedeutet aber niemals etwas „fest“ zu stellen.

MD
Was mich noch genauer interessieren würde, wie sie von dem Jungen der durch die Strassen zog und beobachtete, zu einem Jugendlichen wurden, der das Bedürfnis hatte, diese Beobachtungen mit der Kamera einzufangen. Verstehen sie unter dem „reinen Bildausdruck“ das erste fotografische, vielleicht auch zeichnerische festhalten, im Gegensatz zum Malen, das scheinbar erst einmal einer Interpretation des Gesehenem entspricht? Und wie kann man sich ihr frühes Arbeiten vorstellen, indem sie „Dinge in ihrem Zusammenhang fotografierten“?

TL
Meine erste Kamera war eine Agfa Box mit einer einfachen Linse (kein Objektiv) und Rollfilm 6×9 cm Negative. Ich war 13 Jahre alt als ich damit anfing zu fotografieren. Ich wollte nie Beobachtungen „einfangen“. Ich wollte von Anfang an BILDER machen. Alles was auf einem Negativ zu sehen war gehörte zu meinem Bild. So verstehe ich bis heute den reinen Bildausdruck.
Für mich war die Malerei und waren eigene gemalte Bilder nie ein Gegensatz zur eigenen Fotografie. Es sind eben nur verschiedene Arten Bilder zu machen. Deshalb habe ich auch niemals „das Gesehene interpretiert“. Das klingt so, als müsse das Gesehene intellektuell geprüft und umgewandelt werden, um brauchbar zu sein und gesellschaftlich anerkannt zu werden. Mit einem ganzheitlichen Prozess des Bildermachens wie ich ihn verstehe, hat so ein Vorgang nichts zu tun. Ich sehe in der Aufforderung zur Interpretation nur die Hilflosigkeit einer materialistischen Gesellschaft mit einer geistigen Dimension in der Kunst umzugehen.

„Dinge in ihrem Zusammenhang fotografieren“: damit ist etwas gesagt über das Zusammenspiel einzelner Erscheinungen im Bild. Erst wenn dieses Zusammenspiel gelingt, kann man von einem „Bild“ sprechen. Es sind keine Methoden, Systeme oder Muster, die einfach angewandt werden können. Auch keine Vorstellungen, die sich beschreiben liessen. So ein Bild muss man sehen: weil es ein BILD  ist.

Aus den frühen Jahren mit der Box und dann der ersten Kleinbildkamera gibt es einige Bilder, die heute noch zu meinen Ausstellungsarbeiten gehören.

MD
Ich sehe das künstlerische Arbeiten durchaus als eine Übersetzung des Gesehenen, Gehörten oder Gefühlten, auch wenn dies in der Gegenwart des Arbeitens, im entscheidenden Augenblick keine Rolle spielen darf. Diesen Arbeitsprozess, das Ausblenden des „Ichs“,  haben sie ja sehr gut beschrieben. Verstehen sie unter dieser Absichtslosigkeit eine Form des Nichts?
Auch sprachen sie davon Zeit zu gewinnen um besser Verstehen zu können. Dieses Verstehen kann sich ja zum Einen auf diesen unmittelbaren Arbeitsprozess beziehen und zum Anderen auf das Interpretieren, oder Befragen ihrer fertigen Arbeiten. Dies muss ja kein intellektueller Vorgang sein, sondern kann auch ganz subjektiv, in einer Sprachlosigkeit passieren. Aber fängt es nicht auch hier an interessant zu werden? In diesem Fragen nach sich selbst, nach einer Wahrheit. Was ist Wahrheit für sie? Vielleicht eine weitere Form des Nichts?

TL
Den Umgang mit dem ICH beim künstlerischen Arbeiten verstehe ich nicht als ein Ausblenden der Ich-Position. Eher würde ich diesen Vorgang als ein Überschreiten, eine Transformation des ICH beschreiben. Es ist ja ein Vorgang der Verwandlung, der im Zentrum der Wahrnehmung passiert. Das ICH ist ja nicht ein Störfaktor, der beseitigt werden müsste. Im Gegenteil : ein starkes, selbstbewusstes ICH bringt erst die Kraft zur Umwandlung mit. Unser Ich ist sehr wertvoll und zugleich steht es im Weg wenn es um unsere eigenen tieferen Wahrnehmungen geht..Genauso wie unser Intellekt im Weg steht bei echter tieferer Betrachtung. Ein meditativer Blick erklärt oder definiert nichts. Aber er macht den Raum zwischen den Dingen erlebbar wodurch Zusammenhänge und Zusammenspiel klarer wird. So kann Bewusstsein entstehen, das in der Kunst unentbehrlich ist. Dieser unmerkliche Moment des Überschreitens der Ichgrenze, der nicht unserem Willen unterliegt, erscheint mir als ein Geheimnis, das man das NICHTS, die LEERE oder den offenen Raum nennen kann. Künstlerische Prozesse sind Meditationen die den Willen transformieren können. Was entsteht ist reines SEIN , das DASEIN der Dinge und Erscheinungen.

Die zweite Frage bezieht sich auf Wahrheit…

Für viele, die sich dem Autoritätsdenken in Gesellschaft und Religion unterwerfen, ist die Frage nach der Wahrheit eine Aufforderung etwas Absolutes zu formulieren oder das Thema einer Führerfigur zu übergeben, der sie blind vertrauen.
Als Europäer des 20.und 21. Jahrhunderts verstehe ich Wahrheit als ein tiefes Wissen von den Gesetzen und Ordnungen des Kosmos und der Natur. Wahrheit ist sozusagen in den Prozessen des Lebens enthalten. Deshalb können wir den Begriff Wahrheit nicht von zeitbedingten Vorgängen trennen. Er gehört zu allen Erscheinungen der Evolution, des Entstehens, Blühens und Vergehens von Leben. Das Leben selbst wurde bisher nicht enträtselt, es bleibt zufällig, überraschend und unberechenbar. Es kann zeitlich immer neu erlebt und beschrieben werden, bleibt aber nicht greifbar als Begriff. Allerdings gibt es menschliche Erfahrungen nach denen Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit die Voraussetzungen für Gemeinschaft, Liebe und neues Leben sind. Wahrhaftigkeit wird im Umgang mit Wirklichkeit deutlich. Sorgfältig und respektvoll mit sinnlichen Eindrücken und Erkenntnissen umzugehen, das bedeutet grundlegende Anerkennung von Dingen und Erscheinungen wie sie tatsächlich sind. Wahrhaftigkeit ist unverzichtbar für die Gültigkeit und Glaubwürdigkeit von künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit.

Die verschiedenen Prozesse in denen Bilder entstanden sind ist eine Sache, über die man sehr unterschiedlich sprechen, denken und Fragen stellen kann. Eine ganz andere Sache ist es über Bilder Gespräche zu führen, die Autorinnen / Autoren öffentlich zur Diskussion stellen. Ich denke beide Diskussionen sollten in Anwesenheit also „life“ geführt werden und nicht schriftlich.

MD
In dem Buch „Amok“ von Emmanuel Carrère formuliert der Protagonist Jean Claude Romand, der aufgrund einer Lebenslüge seine gesamte Familie umbrachte, folgenden Satz:  „Indem man in dieser schrecklichen Wirklichkeit einen Sinn entdeckt, wird sie vielleicht die Wahrheit werden und ganz anders, als sie zu sein schien. Wenn sie tatsächlich die Wahrheit ist, wird sie auch alle Wunden heilen…“ Ich verstehe den Satz nach wie vor nicht, bilde mir aber ein, dass er ein quasi religiöses Trostversprechen beinhaltet, und ein mögliches Verständnis von Kunst. Kunst als Inbegriff von Wahrheit? Aufgrund der aktuellen Weltlage ist man schnell versucht mit seiner Kunst politisch aktiv zu werden, klare Antworten zu suchen, anstatt einer nebulösen, fragenden Ungreifbarkeit zu vertrauen, die ähnlich religiösen Glaubensvorstellungen, auch Raum bietet, Trost zu spenden. Was ist für sie Kunst und welche Aufgabe hat sie, falls sie überhaupt etwas zu wollen hat?

TL
Ich verstehe nicht warum ein Schriftsteller in Bezug auf Wirklichkeit die Frage nach Sinn stellt und dann im gleichen Satz über Wahrheit spekuliert. Das scheint mir recht ungenau gedacht zu sein und hat nichts mit philosophischem Denken zu tun. Wenn hier ein religiöses Versprechen gemeint sein sollte, wird das Ganze für mich noch unverständlicher. Kunst kann ich in diesen Formulierungen nicht erkennen.

Meine Gedanken zu Wahrhaftigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit und den Prozessen des Lebens haben an keiner Stelle etwas mit religiösen Glaubensvorstellungen zu tun. Das wäre ein Missverständnis. Ich spreche immer auf der Grundlage konkreter eigener Erfahrungen. Der Vorstellung, Kunst müsse politisch sein um sich zu legitimieren, hab ich mich nie angeschlossen. Eine Gesellschaft kann mir nicht sagen, wie Kunst zu sein hat. Aber natürlich gibt es Kunstwerke, die weit ins politische Leben hinein gehen. Ebenso sind viele Bereiche der Kunst mit religiösen Inhalten verbunden in allen Kulturen. Es gibt aber auch eine Kunst, die sich humanistischen Auffassungen verpflichtet fühlt. Zu dieser Philosophie und Geisteshaltung habe ich mich immer bekannt. Besonders gehören dabei die Ebenen unseres Bewusstseins und die kulturellen Prägungen des kollektiven Bewusstseins dazu. Die großen Strömungen der Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts gehören in meinen Arbeiten zu den Ausdrucksmitteln. Die Frage nach der Aufgabe der Kunst in unserer Gesellschaft klingt für mich so, als wollten die Soziologen den Künstlern einen Platz zuerkennen, an dem sie arbeiten dürften oder sollten. Starke Kunst muss sich immer aus sich heraus erklären und behaupten. Manchmal kann es helfen über bildende Kunst zu sprechen. Noch wichtiger scheint mir über das eigene Sehen miteinander ins Gespräch zu kommen. Interpretation geht oft von starren Begriffen aus und erscheint mir deshalb wenig hilfreich bei dem Bemühen ins Unbewusste unserer Erlebnisse vorzudringen.

MD
Ich denke wenn man für sich in der Wirklichkeit, so schrecklich sie sein mag, eine Ordnung, gar einen Sinne entdecken kann, kann diese Ordnung durchaus zu einer Art Wahrheit werden. Eine Wahrheit an die man glaubt und die Trost spenden kann. Das betrifft im Kern religiöse Glaubensvorstellungen aber auch Fragen an eine Wirklichkeitsbetrachtung und somit Fragen an Kunst. Können konkrete eigene Erfahrungen ab einem gewissen Punkt nicht auch nur noch geglaubt werden?
Es ist vermutlich auch dieses uneindeutige Fragen, das mich an dem Satz Emmanuel Carrères interessiert. Der Mensch hat sich auf Bedeutungen von Zeichen und Begriffen geeinigt um kommunizieren zu können. Doch sobald etwas ins Unbewusste, Ungenaue vordringt, werden doch auch konkrete Begrifflichkeiten uneindeutig und verschwommen, werden Sätze und Bilder poetisch. Im Vorfeld der Ausstellung haben wir uns darüber geeinigt den Zugang zu ihren Arbeiten anhand eines Gesprächs zu erleichtern. Inwiefern spielt Sprache in Bezug auf ihr Denken und Arbeiten eine Rolle, auch wenn sich starke Kunst aus sich selbst heraus erklären und behaupten sollte?

TL
Jetzt sind wir in unserem Dialog an einem wichtigen Punkt angekommen. Einmal ist es die Frage nach einem Glauben und zum Anderen scheint mir der Begriff und die Vorstellung des Unbewussten wichtig für eine Verständigung in den Bereichen der Kunst.

Sie beschreiben wie eine bestimmte Ordnung, die Sinn deutlich macht zu einer Wahrheit werden kann und so einem Glaubensinhalt gleich kommt. So kann Trost entstehen gegenüber einer schrecklichen Wirklichkeit. An welche Ordnung oder Glaubensvorstellung denken Sie dabei?
Konkrete, eigene Erfahrungen verstehe ich als durchdachte Erlebnisse, die feste Gewissheit für das eigene Leben darstellen, auf denen man aufbauen kann. Deshalb sehe ich keinen Grund dafür Erfahrungen zu „glauben“. Meine Erfahrungen geben mir Sicherheit, weil sie ja zu mir gehören und ich mich auf meine Sinne (Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen etc.) verlassen kann.
Ich verstehe aber nach ihrer Beschreibung, dass für ihr Empfinden ein Glaube Schutz und Sicherheit bedeutet im Umgang mit der erlebten Wirklichkeit.
Für mich ist das anders. An Stelle eines Glaubensinhalts erlebe ich in meinen Wahrnehmungen der Dinge und Ereignisse ein starkes, unerschütterliches Vertrauen in das Gewordene und damit in das Sein. Allerdings ist das Vertrauen nur möglich, wenn ich das Erlebte nicht bewerte und nie beurteile. Alles erscheint mir in einer bestimmten Phase von Kreisläufen, die wachsen, blühen und vergehen. So ist Untergang und Tod die Voraussetzung für neues Leben und deshalb kein Grund für tiefere Beunruhigung. Im spirituellen Denken ist diese Art der Anschauung immer üblich gewesen. Sie blieb immer außerhalb der religiösen Lehren und Glaubensbekenntnissen.
Ein nicht-wertendes Sehen ist für mich die Grundlage meiner künstlerischen Arbeit.

Die beiden Bereiche des Bewusstseins.

Man spricht auch vom Tagesbewusstsein und vom Nachtbewusstsein. Auch wird der Bereich des Unbewussten auch unterbewusst genannt, um die Verbindung der beiden Ebenen deutlich zu machen. Oft wird das Bild des schwimmenden Eisbergs verwendet für unser Bewusstsein: der kleinere Teil ist über der Wasseroberfläche als Tagesbewusstsein bezeichnet und der meist viel größere Teil des Unbewussten ist unter Wasser. Beim Fotografieren, wenn meine Bilder entstehen, ist mir die Einheit beider Teile des Bewusstseins sehr wichtig. Eine gesteigerte Wahrnehmung überfällt mich in Bezug auf alles Sichtbare und die Zeitabläufe um mich herum. Nur wenn ich dem eigenen Ego keinerlei Raum mehr gebe, bin ich ganz verbunden mit dem wirklichen Geschehen. In diesem Zustand kann ich besonders schnell reagieren oder agieren. Ich werde zum Werkzeug des Geschehens. Meine Gedanken sind dann durchlässig und ohne Bedeutung. Das Gesehene führt mich an den Punkt der Entscheidung. Aussen- und Innenwahrnehmung sind in solchen Momenten nicht mehr zu unterscheiden. Solche Zustände können je nach der Situation in der Öffentlichkeit blitzartig entstehen und schnell wieder vorbei sein. In Innenräumen oder im Studio kann sich so ein Zustand aber auch langsam aufbauen und unterschiedlich lang fortsetzen.

Je mehr ich mich von Absichten, Erinnerungen und Vorstellungen befreien kann, umso leichter gelingt etwas Einmaliges. Die eigenen Gedanken sind in der Zeit von Planung und Vorbereitung von Arbeitsprozessen wichtig. Und natürlich später beim Vergleichen und Analysieren der Ergebnisse muss das Tagesbewusstsein helfen alle Details genau zu hinterfragen und zu verstehen, was sich da ohne scharfe Kontrolle aus den tieferen Schichten des Bewusstseins im Bild manifestiert. Der offene Umgang mit den „unbewussten Entscheidungen“, die zu den Bildern geführt haben, muss geprüft werden. Die beiden Seiten unseres Bewusstseins dürfen wir nie gegeneinander ausspielen. Beide gehören zum Menschen und besonders zur Kunst.

MD
Ihr Vertrauen in das Sein, in das Gewordene kann ich sehr gut nachvollziehen und ist auch für mich Teil meiner Erfahrung.
Als Fotograf ist das nicht-wertende Vertrauen in die Dinge grundlegend und doch wird man im Umgang mit der Fotografie, wie mit allen Medien die sich mit der Wirklichkeit befassen, an die Grenzen der Wahrnehmung, der Darstellbarkeit gebracht.
Vielleicht fängt das Ordnungssystem von dem ich gesprochen habe, gerade da an, wo man sich nicht mehr auf das Sehen, Hören, Fühlen und Schmecken verlassen kann. Jenseits einer erlebten Wirklichkeit. Betritt man hier nicht einen Raum, der nur noch geglaubt werden kann?  Ähnlich dem Zusammenspiel der Bewusstseinszustände, ist der Glaube kein strarres Konstrukt, sondern wird immer wieder durch das Dasein befragt. Meine Sicht auf das Sein changiert zwischen der Erfahrung im Hier und Jetzt und dem großen Fragezeichen jenseits unserer Erfahrung. Für mich setzt dort die Wissenschaft und die Kunst an. Dinge sichtbar, fühlbar, lesbar zu machen, an die zuvor vielleicht nur geglaubt werden konnten. Das Vertrauen in das Gewordene, in den Kreislauf des Lebens auf der einen Seite und der Glaube an das nicht Greifbare auf der Anderen, sind zwei Zustände die ohne Bewertung nur im Zusammenspiel eine Art von Wahrheit darstellen. Religiöse Lehren, Philosophien, Theorien im Allgemein dienen mir dabei als Gedankenstützen um mein Schaffen zu Befragen, um vielleicht irgendwann besser verstehen zu können.

Ich kann nachvollziehen, dass für viele Menschen der Glaube an etwas Größeres, das außerhalb unserer unmittelbaren Wahrnehmung liegt, sehr viel Halt im Leben bietet. Alles in der Welt kann ihnen genommen werden, nur der Glaube an etwas ungreifbar Höheres nicht. Ihr Vertrauen hingegen scheint fest an die Erfahrung in der materiellen Welt gebunden zu sein. Ist es allein ein Akzeptieren an den Kreislauf des Lebens der Halt gibt? Oder ist es die Erfahrung des besonderen Augenblickes, den sie im Vorgang des Fotografierens beschrieben haben, im Zusammenspiel von Tages- und Nachtbewusstsein, der eine Geborgenheit vermittelt? Dieser entscheidende Augenblick ist für mich ein Moment der Ruhe, ein Angekommensein. Es ist vermutlich ein Zustand den man auch beim Meditieren erreichen kann. Ein Freund findet dieses Gefühl im Rausch, im Nichts wie er es nannte. Ein großer Glücksmoment. Im religiösen Kontext wird dieser Moment vielleicht auch Gott genannt, der sich verbirgt und der in demselben Sinn offenbar ist. Zufall? Was ist dieser Moment?

TL
Trotz unterschiedlicher Positionen hier und da, bei denen ich manchmal andere Gedankengänge verfolge, erlebe ich doch, dass wir die gleiche Sprache sprechen im Umgang mit dem NICHTS. Und unterschiedliche Erfahrungen in der Kunst und im eigenen Leben führen doch an vielen Stellen zu ähnlichen Schwingungen an den Grenzen zum „Nicht Mehr Greifbaren“, zum NICHTS. Gerade weil dort unsere  Begriffe und Vorstellungen versagen, bekommen gleich empfundene Schwingungen besondere Bedeutung. Bei all den Versuchen etwas greifen zu wollen geht es dann plötzlich um Tod und  Leben, um ALLES und  NICHTS. Hier stehen sich gegenüber:  alltägliche Gewohnheit und ein Geheimnis der Kunst. Auch gewalttätige Macht und offene Solidargemeinschaft, wie wir es in dem neuen Krieg gerade deutlich erleben.

Das NICHTS steht nicht nur für das Unbekannte sondern genauso für das Leben, die friedliche Gemeinschaft, die Kunst, die uns verwandeln kann. Ich verstehe das NICHTS als einen direkten Weg, der Verwandlung möglich machen kann ohne einen Halt an feste Vorstellungen wie Ordnungssystem, allmächtigen Gott, starke Führerfigur oder Erlöser. Das NICHTS kann man nicht fest legen oder fest stellen. Es ist ein ablaufendes Erlebnis ohne eigene Zeit. In sich widersprüchlich kann es durch Logik nicht berührt oder erfasst werden. Ich vermute es ist nur brauchbar für Menschen, die fähig und bereit sind einen direkten Weg zu gehen ohne sich dabei festhalten zu müssen. Vom NICHTS kann man keinen Trost, keinen Halt oder Beruhigung erwarten. Es bedingt und stärkt gleichzeitig die eigene geistige Kraft. Vertrauen und innere Festigkeit sind seelische Qualitäten, die einem auf dem Erlebnisweg des NICHTS sehr helfen können.

Ob andere in den Grenzerfahrungen einen Halt finden und das Wirken des einen und einzigen Gottes dort erleben, kann ich nicht nachvollziehen. Deshalb kann ich auch nicht beurteilen, ob und in welcher Weise so ein Glaube Halt geben kann. Mir ist die Vorstellung von der rein materiellen Welt mit physikalischen Gesetzen hier und irgendwo im Himmel ein göttliches Geistwesen, an das man fest glauben muss, um Halt zu finden, völlig fremd. Ich betrachte diese Spaltung in materielle und geistige Welt als eine staatliche bzw. kirchliche Konstruktion für die herrschaftliche Macht. So wie ich die Welt wahrnehme können Materie und Geist zwar unterschieden, nicht aber wirklich und grundsätzlich voneinander getrennt werden. Wenn es doch geschieht, beginnt hier die Spaltung und damit ein Machtmissbrauch.
In künstlerischer Arbeit muss nach meinem Verständnis Materie und Geist als ein Ganzes verstanden werden. Materie spiegelt durch Form, Struktur, Licht Material etc. ihren eigenen Geist. Und der Geist kann sich erst in den Formen, Körpern, Schwingungen und allen Möglichkeiten der Technik, Natur und Kunst für unsere Sinne mitteilen.
Der gesteigerte Moment der Wahrnehmung beim fotografischen Arbeiten erscheint mir durchaus als Annäherung an das NICHTS. Hier kann es geschehen, dass Materie und Geist sich nach den Gesetzen eines Bildes im gerahmten Raum ein Ganzes werden können.

Die alten Griechen hätten fotografische Bilder, die über das Abbilden hinaus gehen, vielleicht als einen Ort bezeichnet, an dem man einem Gott oder einer Göttin begegnen kann. Ihre Wahrnehmung der Welt muss viel differenzierter gewesen sein als unsere. Schließlich hatten sie für weitreichende menschliche Wahrnehmungen und Lebensformen klar beschriebene Göttinnen Götter, Halbgötter und viele andere geistige Wesen, mit denen sie in Verbindung waren und die übers Meer hinweg Kommunikation bereichert haben. Eine Welt mit nur einem Gott ohne Göttin wäre ihnen sicherlich armselig und unterentwickelt vorgekommen.

Vielleicht können in Europa einmal Versammlungsorte entstehen, an denen sich Menschen um ein leeres NICHTS versammeln. Dafür müsste die Kunst wieder mit dem Heiligen verbunden sein.

MD
Ihre letzte Antwort schlägt wunderbar den Bogen zurück zum „Kleinen Raum für aktuelles Nichts“. Mit dem Raum versuche ich einen Ort zu etablieren, wo man sich den Fragen zum NICHTS nähern kann. Sei es indem wir uns zum Nichtstun treffen, oder indem ich Ausstellungen zeige, die sich mit der Suche nach dem Nichts beschäftigen. Würde der „Kleine Raum für aktuelles Nichts“ ihrer Idee eines Versammlungsortes um eine leeres NICHTS entsprechen? Können darin überhaupt Arbeiten wie ihre gezeigt werden, oder widerspricht dies der Idee des NICHTS? Wenn ja, was unterscheidet so ein Versammlungsraum von einem klassischen, institutionellen Ausstellungsraum?
Auch sprachen sie in diesem Zusammenhang von der Verbundenheit des Heiligen und der Kunst. Für Rudolf Otto blieb das Heilige „im unauflöslichen Dunkel des rein gefühlsmäßigen, unbegreiflichen Erfahrens.“ Es ist nicht deutbar sondern nur andeutbar. Als das „ganz Andere entzieht es sich aller Sagbarkeit.“ Wie würden sie den Begriff des Heiligen fassen?

TL
Um sich den Fragen zum NICHTS anzunähern sprechen Sie zwei Möglichkeiten an: man trifft sich an einem Ort zum Nichtstun, oder es werden dort Ausstellungen gezeigt, die sich mit der Suche nach dem NICHTS beschäftigen. Die erste Möglichkeit ist eine Vereinbarung mit den Besuchern jegliches Handeln zu hinterfragen und evtl zu unterlassen. Das wäre ein erster Ansatz zur Meditation. Diese kann gelernt und geübt werden und braucht jemanden, der oder die Erfahrung auf diesem Gebiet hat.
Die zweite Möglichkeit sucht nach Ausstellungsbildern, die Gedanken oder Ideen des NICHTS vermitteln können. Ich bezweifle ob das überhaupt möglich wäre. In meinem Verständnis ist das NICHTS eben Leere und damit Abwesenheit von jeglichem Begriff und jedem Begreifen. Deshalb kann das NICHTS auch keine Idee sein. Man geht dort mit nichts um. Viel eher ist es namenlos und ein großes Schweigen. Man kann in dem Schweigen Erlebnisse haben, die im fortgeschrittenen Stadium Erfahrungen werden können. Man nähert Sich der Leere und dem NICHTS indem man Schritt für Schritt sinnliche Ereignisse und damit Gedanken und Gefühle hinter sich zurück lässt. Solange man an Gefühlen festhält aus Angst, ohne sie könne dann gar nichts mehr sein, solange ist man dem NICHTS noch nicht begegnet. Die Angst hält einen von weiteren Erlebnissen ab. Die Angst verhindert weitere Erlebnisse. Manche fühlen sich auch beschützt durch die eigene Angst und halten deshalb dankbar an ihr fest.

Ich bezeichne das NICHTS einfach als den RAUM.

Wir können Raum ja nicht sehen, denn er ist gefüllt mit unsichtbarer Materie und im Weltraum bewegt sich nur noch Energie durch den leeren Raum. Was wir sehen ist Materie, die einen Raum ausfüllen oder begrenzen kann. Wir sehen Körper und Objekte, die sich im Raum bewegen. Aber der Raum selbst ist leer. Er ermöglicht alle großen und kleinen Bewegungen und die zyklischen Abläufe. Aber die Dimension von Raum, und durch alle Arten von Bewegung auch die Zeit, bleiben umbegreifbar, unendlich, nicht benennbar. Auch in der modernen Physik spricht man bei der Frage nach dem Raum von etwas Unendlichem.
In allen Kulturen beginnt in diesem Raumerlebnis eine jenseitige Welt, die für Menschen nicht verfügbar ist, aus der aber an vielen Stellen Zeichen, Signale und Botschaften kommen, die sehr konkret sein können und dennoch unerklärlich sind und bleiben. Konkrete Beispiele dafür sind alle Formen des Lebens. Jenseitig wird diese Welt empfunden, weil wir sie nicht beherrschen und willkürlich benutzen können. Wir sind es gewohnt nur rational Erklärbares anzuerkennen. Das ist in Bezug auf jede unsichtbare, nicht greifbare Wirklichkeit eine sehr arrogante Grundhaltung. Solange diese Arroganz nicht aufgegeben wird, können Signale und Zeichen aus dem NICHTS auch nicht verstanden werden. Im Grunde leugnet diese rationale Arroganz die Möglichkeiten der Kunst.

Heilige Orte – heilige Zeichen und Symbole –  heilige Worte und Formeln –  heilige Klänge

Das Heilige ist ein Ereignis, das in vielen Zusammenhängen erlebt werden kann. Voraussetzung ist eine Geisteshaltung, die offen ist für Erlebnisse und Ereignisse jenseits von Logik und Vernunft. Erlebnisse von etwas Heiligem haben immer mit großer Harmonie und dem kurzen oder dauerhaften Zusammentreffen unterschiedlicher Ursachen und Wirkungen zu tun.
Derartig gesteigerte Wahrnehmung erlebt man häufig am Rand von sinnlichen Vorgängen. Reinheit, Schönheit oder Vollkommenheit in der Wahrnehmung können bei uns heilige Schauer auslösen. Etwas sei „nicht von dieser Welt „ beschreibt das Erstaunen über etwas Seltenes und Einmaliges. In früheren Kulturen hat man noch kaum unterschieden zwischen Kunst und Handwerk, Mathematik, Religion, Medizin und Seelenkunde. Menschen, Zwischenwesen und Götter lebten in Gemeinschaft miteinander. Das Heilige begann dort wo menschliches Vermögen am Ende war und Göttinnen oder Götter eingriffen ins Geschehen.