13.01.2023 Im Gespräch I – Eine Stunde lang Nichtstun

„Absurderweise passiert unglaublich viel“

Ein Gespräch zwischen Birgit Auf der Lauer, Michael Disqué und Anna-Lena Wenzel am 13.1.2023 über das Format EINE STUNDE LANG NICHTSTUN im Kleinen Raum für aktuelles Nichts.

ALW: Seit Mai 2022 gibt es das Format Nichtstun, das ihr seitdem regelmäßig durchgeführt habt. Wie ist es entstanden?
MD: Ich habe mich gefragt, wie es ist, wirklich nichts zu tun und alles, was dabei passiert, zuzulassen – nicht wie im Kontext von Meditieren, denn das ist hartes Training und Konzentration …
ALW: … sondern als öffentliches Angebot, im Sinne von kollektivem Nichtstun.
MD: Genau, ich wollte das mit mehreren zusammen machen. Jeder sitzt mal auf einer Bank und macht nichts, aber zusammen nichts tun, hat eine andere Intensität.
ALW: Das Format bestand darin, sich 60 Minuten Zeit zu nehmen und hier, im Kleinen Raum, zusammenzukommen. Wie ist die erste Sitzung abgelaufen?
MD: Das interessante war, das ein Teilnehmer mit einem Buch und einem Liegestuhl kam und das Nichtstun zum Lesen nutzen wollte. Das ist es ja gerade nicht. Am Anfang war es etwas verwirrend, keiner wusste so richtig, was wir vorhatten. Aber ich mochte dieses Offene und das jede*r mit einer anderen Vorstellung vom Nichts kam.
ALW: Aber es ist auch eine Herausforderung. Wir haben am Anfang viel darüber diskutiert, wie man die Einladung formulieren sollte. Wir waren da mal wieder unterschiedlicher Meinung.
MD: Ich habe gesagt, ich würde es einfach so hinstellen und du meintest, man müsse erklären, was man vorhat, sonst könnten viele damit nichts anfangen.
BL: Oder haben Leistungsdruck. Ich soll jetzt eine Stunde lang Nichtstun? Ich schaffe aber nur 20 Minuten!
ALW: Senkt es Hemmschwellen, wenn man vorher weiß, was passieren wird oder nimmt es der Situation die erhoffte Unbestimmtheit? Ich hatte Schwierigkeiten mir vorzustellen, wie das werden würde und merkte, wie mich das verunsichert hat. Im Anschluss hatte ich ein starkes Redebedürfnis. Mich hätte es erleichtert zu wissen, dass es im Anschluss die Möglichkeit gibt, darüber zu sprechen, was da gerade passiert ist.
BL: Ja, das Bedürfnis ist total da. Es ist ein besonderer und ungewöhnlicher Moment, den man danach teilen möchte.
MD: Ich glaube, ich habe das am Anfang unterschätzt. Ich dachte, mit Nichtstun kann jede*r was anfangen. Aber für viele ist das sogar abschreckend.
BL: Ja, viele Leute sind damit überfordert, weil wir alle aus einem Alltag kommen, der total voll gepackt ist mit Aufgaben und Aktivitäten. Sich dann zu entschleunigen und zu sagen, ok, ich setze mich auf den Hosenboden und mache eine Stunde lang nichts, ist extrem herausfordernd. Wir haben das verlernt – falls wir es jemals konnten. In unserer Alltagskultur gibt es wenig Raum für Rumlungern und Abhängen. Wobei das für Kinder anders ist, weil die sich keine Gedanken darum machen.
ALW: Ich könnte mir vorstellen, dass die Leute denken, sie werden Teil von einem Kunstprojekt, das sie nicht überblicken und auf das sie keinen Einfluss haben. In der Offenheit steckt eine Großzügigkeit, die aber auch anders gelesen werden kann – gerade wenn es sich um einen Kunstraum handelt!
BL: Deswegen glaube ich, dass es wichtig ist zu sagen, dass wir zu einem künstlerischen Format zusammenkommen und was in diesem Rahmen stattfinden wird.
MD: Es ist eher als Angebot gedacht – wie ein Bild, das ich an die Wand hänge. Ich will die Leute nicht belehren, dass sie mehr Nichtstun sollen. Deswegen habe ich am Anfang auch eine Teilnehmergebühr verlangt, um das ad absurdum zu führen, das man für das Nichtstun, das man eh überall machen kann, Geld bezahlt.
ALW: Für mich war bei der Stunde Nichtstun speziell, dass ich etwas, das ich normalerweise allein mache und das vornehmlich aus in-mich-hinein-gucken besteht, mit anderen teile. Im Kleinen Raum spürt man sofort die Präsenz der anderen. Wie kann ich mit mir und zugleich mit anderen sein?
BL: Es ist schon eine krasse Intimität, zusammen zu schweigen und einfach nur als Körper im Raum zu sein. Ich fand das großartig, diese Herausforderung anzunehmen und bin deswegen immer wieder gekommen, weil mich das so angesprochen hat und dem entspricht, woran ich interessiert bin und was ich vermisse – im Leben und in der Kunst: So zu sein mit sich und der Welt.
MD: Was ich teilweise empfunden habe, entspricht der konzentrierten Abwesenheit, die ich beim Betrachten von Kunstwerken empfinde, die mich berühren oder wo ich eine große Intensität erfahre.
ALW: Interessant, weil ich, wenn ich mir ein Bild anschaue, doch total viel Input habe, während beim Nichtstun das Gegenteil der Fall sein sollte. Ich habe mich während der Stunde Nichtstun gefragt, worum es eigentlich geht: um die Reduktion der Sinneseindrücke oder die Öffnung für das Kommende? Ich merkte jedenfalls, wie sich meine Wahrnehmung immer weiter sensibilisierte und habe versucht zu beschreiben, was passiert, wenn man eine Stunde lang nichts tut:
Ich konzentriere mich auf meinen Atem, wie ich es vom Yoga kenne. Ich fühle in meinen Körper, achte auf meine Haltung und nehme Verspannungen wahr.
Ich lenke mich ab, in dem ich aus dem Fenster schaue und den Hinterhof betrachte.
Ich höre auf die Geräusche, die durch das Fenster kommen: höre Menschen vorbeigehen, höre die Lüftung, die Vögel, die Musik aus dem Nachbargebäude.
Meine Aufmerksamkeit wandert zu den anderen Menschen im Raum. Ich sehe ihre Konzentration, spüre ihre Unruhe, nehme jede Bewegung wahr.
Am Ende ist die Stunde schneller vergangen, als ich gedacht habe.
BL: Ja! Interessant, was für ein Spektrum an Dingen man wahrnehmen kann.
MD: Du versucht, das Erlebte in Sprache zu packen. Mich interessiert, was hinter dieser Wahrnehmung passiert.
BL: Meinst du, was auf der geistigen Ebene passiert?
MD: Ja, vielleicht kann man es damit beschreiben, dass jemand eine gewisse Art von Ruhe erfährt – oder Unruhe.
Spannend ist ja auch, was danach mit einem passiert – wenn man erwacht. Es ist anders, als es vorher war – ohne dass ich es genauer beschreiben könnte.
BL: Es findet schon eine Entschleunigung im Kopf statt. Das wäre mal interessant, sich mit Neurolog*innen darüber zu unterhalten, was dabei passiert.

Nichtstun und Meditation

ALW: Birgit, du hast erzählt, dass du bereits einige Erfahrung mit Meditationen gemacht hast. Magst du davon erzählen?
BL: Für mich alleine mache ich Atembeobachtungen, die im Zen-Buddhismus sehr verbreitet sind. Wenn Gedanken oder Eindrücke kommen wird die Aufmerksamkeit immer wieder auf den Atem gelenkt. Eine weitere Mediation, Vipassana, kann man nur unter Anleitung machen. Da wird die Aufmerksamkeit durch den Körper gelenkt. Du fängst oben beim Schädeldach an und scannst von innen wie sich diese oder jene Stelle anfühlt bis zu den Fußsohlen. Aufkommende Gedanken werden zu ganz konkreten Stellen geführt. Wie fühlt sich dein Ellenbogen eigentlich an? Grundsätzlich geht es darum zu verstehen, dass es kein aus sich selbst heraus produziertes Ich gibt, was da irgendwo wohnt, sondern dass alles im stetigen Wandel ist. Es findet eine ständige Energieumwandlung statt, die man unter einem Mikroskop beobachten kann! Diese feinstoffliche atomare Umwandlung verbindet uns mit allen anderen Lebewesen und schafft eine Verbundenheit und gleichzeitige Entgrenzung. Das am eigenen Leib zu erfahren, ist das Endziel.
MD: Dieser Theorie zufolge wird ständig Energie freigesetzt, was vielleicht auch bedeutet, dass man nicht aus dem Nichts, sondern immer aus Etwas kommt. Dass es nicht Nichts gibt.
BL: Ja, wir sind keine abgekapselten Einheiten, sondern alles ist miteinander verbunden.
MD: Das hört sich danach an, was Physiker*innen und Mathematiker*innen heute sagen. Es geht scheinbar vielmehr um die Verhältnisse zwischen der Materie, nicht um die Einzelteile an sich.
BL: Die Grundannahme der Meditation ist, dass du dir dieses Wissen nicht theoretisch erschließen kannst, sondern üben, üben, üben musst.
ALW: Du bist immer auf dem Weg, es gibt eigentlich keinen Endpunkt.
BL: Wie beim Nichtstun: es gibt keine Anleitung und es ist ergebnisoffen. Es heißt, guck, was passiert. Und absurderweise passiert unglaublich viel.
MD: Wobei man zulassen muss, dass man nicht auf der Suche nach einer Erkenntnis oder spezifischen Erfahrung ist.
BL: Ja, es kommt und geht, wie der Atem.

Spirituelle vs. politische Dimensionen

BL: Ich würde an diesem Punkt gerne an euer Gespräch „Ist weniger mehr“ anknüpfen. Darin sprecht ihr von einer konkret politischen auf der einen und einer philosophisch-geistigen Dimension des Nichts auf der anderen Seite. Es wirkt so getrennt. Für mich geht das zusammen: Ich finde eine Stunde Nichtstun krass politisch.
MD: Für mich schließt sich das auch nicht aus. Ich glaube, es ist die Frage, mit welchem Ansatz man rangeht. Tut man es, um etwas zu verändern – das wäre für mich eine politische Herangehensweise – oder ohne einen Zweck und ergebnisoffen, dann würde ich es eher als spirituellen Ansatz verstehen. Auch Zweiteres kann politisch sein– wie alle gute Kunst.
ALW: Es klingt so leichtfüßig, temporär einen zweckfreien Raum zur Verfügung zu stellen, dabei trägt man durchaus eine Verantwortung!?
BL: Man muss einen sicheren Raum schaffen.
MD: Die Frage ist, wo die Verantwortung anfängt: Wenn ich mich frage, ob ich eine psychologische Ausbildung gemacht haben muss, um alle Eventualitäten abfedern zu können, weil ich den Rahmen bereitstelle, dann sehe ich das nicht so.
BL: Ich auch nicht. Ich bin der guten Hoffnung, dass sich die Menschen einigermaßen darüber im Klaren sind, in was für einer Verfassung sie sich befinden, und ob sie teilnehmen können oder nicht. Aber mich hat die Frage auch schon beschäftigt. Man ist so verletzlich in so einer Situation. Man weiß nicht, was alles passiert, wenn man nichts tut. Man sitzt in einer Gruppe und es geht einem plötzlich richtig schlecht – oder richtig gut. Man hat es nicht unter Kontrolle, was da in einem entsteht in dieser Situation. Je nach dem wer da ist, kann sich das sehr anders anfühlen.

Kontext

ALW: Das Nichtstun findet hier im Kleinen Raum statt. Macht es einen Unterschied, ob gerade eine Ausstellung zu sehen ist, oder nicht?
MD: Als wir uns im Rahmen der Ausstellung von Thomas Lübke getroffen haben, war ich neugierig darauf, wie das werden würde – ob sich das auswirkt, weil es auf den Bildern viel um das Nebensächliche geht, was abseits von Projekten, nebenbei, entstanden ist. Überraschenderweise hat sich die Situation für mich durch die Kunst nicht verändert.
BL: Für mich auch nicht. Als wir es während deiner Ausstellung gemacht haben, als du hier einen Baum reingestellt hast, war es anders. Da hatte ich das Gefühl, es geht besser zusammen, vielleicht weil der Baum auch mal etwas Lebendiges war? Ich habe mit meinen Sinnen anders reagiert – obwohl ich es mir nicht vorgenommen habe. Es ist für mich eine intensivere Erfahrung, durch die Natur zu laufen, als durch eine Ausstellung. Da passieren auf der Wahrnehmungsebene Feuerwerke.
MD: Ich musste gerade an eine Ausstellung von Martha Jungwirth in Düsseldorf denken – das war für mich auch ein Feuerwerk: wie als wenn ich in einem Wald stehen würde.
BL: Ich glaube, es ist viel individuelle Prägung, wie man reagiert.
MD: Ich finde, Bilder an der Wand können eine wahnsinnige Anwesenheit haben. Wenn ich vor diesen Werken stehe, bin ich sprachlos in einem guten Sinne – so wie beim Nichtstun, wo es eben auch nicht um Sprache geht, sondern um die Erfahrung an sich.
ALW: Ihr habt das Nichtstun ja auch schon einmal im Außenraum durchgeführt. Was hat sich da verändert? Während um einen herum das Leben weitergeht, sitzt man still …
BL: Wir waren vor dem Urban-Krankenhaus mitten im Hochsommer um 10 Uhr morgens. Da ist ein anderer Rhythmus um einen herum, wenn die Leute mit ihren Hunden oder Kindern von A nach B gehen. Wir waren die einzigen, die auf der Wiese gesessen haben.
MD: Am Ufer sitzend, war es, als hätte man ein Panorama vor sich. Es war wie in einem Kino zu sitzen und ein von mir losgelöstes Geschehen zu beobachten.
BL: Witzig, mir ging es total anders. Ich hatte das Gefühl, meine Wahrnehmung ist so verfeinert, das alles ganz nah an mich herankommen kann und ich wirklich in der Welt drin bin, ohne ständig auf mich selber zu stoßen. Ich wurde sehr sensibel durch diese Situation und hatte das Gefühl, ich kriege alles mit, weil ich mit keiner konkreten Aktivität beschäftigt bin. Dafür gab es eine permanente Denkbewegung: der Hörapparat stellte sich schärfer und ich dachte: nein, das ist nicht die Aufgabe; ich konzentriere mich auf den Atem bis ich realisiert, das soll es auch nicht sein. Es war auf jeden Fall eine sehr intensive Erfahrung.
MD: Der Unterschied von drinnen und draußen ist für mich, dass wir hier drinnen niemanden irritieren. Wenn wir draußen sind, kann es schnell kippen hin zur Frage, ob es darum geht, dem Außen etwas zu zeigen. Da muss man aufpassen.
BL: Das stimmt. Wenn wir es im öffentlichen Raum machen, ist es für mich eher eine Intervention.
ALW: Ich merke schon, es tauchen viele Fragen auf beim Nichtstun. Gut, dass ihr weitermacht!

Das Gespräch ist im Februar 2023 als Poster erschienen und bildet den Auftakt der neuen Reihe Im Gespräch.
Gestaltung: Andrea Ruhland
Transkription: Anna-Lena Wenzel
Gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa Berlin